Edigheimer Gespräche

im Schuljahr 2003/2004

Das Bewusstsein für das Grosse
oder:
Vom Verlust der Vorbilder im Zeitalter der Medien

Karl Ludwig Kemen

 

 

Der Exzess des gegenwärtigen Rummels um das Star-Sein in Deutschland - inkorporiert in den Personen Daniel Küblböck und Dieter Bohlen - hat ein Ausmaß angenommen, das die bekannten Maßlosigkeiten menschlichen Handelns auch im Bereich der Fernsehunterhaltung (Entertainment) und des so genannten Familienfernsehens weit überschreitet.

Star zu sein ist heute das verbriefte und beglaubigte Recht jedes einzelnen Menschen. Wir werden schon als Star geboren und fressen dann mit knapp 18 Maden und Kakerlaken, um die eigene Starsubstanz zu retten. Zugleich damit gerät man in die Hitparade der größten Deutschen. Bohlen und Küblböck gleich hinter den in den schulischen Bildungsanstalten so unbekannten Personen wie Marx oder Goethe. Bohlen, Küblböck und Co. scheinen zum Bildungsstoff der Deutschen geworden zu sein. Wenn sie es noch nicht sind, müssten sie heute noch in den Kanon der Lehrpläne aufgenommen werden: als sprachliches, musikalisches, ethisches, ökonomisches und soziologisches Ereignis und Muster. Das würde in vielerlei Hinsicht unser Pisa-Trauma mildern: entweder durch Niveauanpassung oder durch Aufklärung.

Wenn bei RTL wöchentlich der Superstar und in Gegenreaktion dazu beim ZDF der Größte Deutsche gesucht wurden, dann scheinen die Deutschen (und in ähnlicher Weise die anderen Nationen) das bitter nötig zu haben. Je mehr wir Stars und Große willkürlich produzieren, um so mehr scheinen dieselben im eigentlichen Sinne zu verschwinden. Gibt es überhaupt noch Stars oder bedeutende Menschen? Wo sind die Vorbilder geblieben? Der Schauspieler Mario Adorf, vielleicht unser einziger Filmstar, oder auch der Komponist Helmut Lachenmann sehen schwarz. Es geht rapide weiter bergab! "Die Demokratie braucht eine Sensibilität gegenüber der Gefahr des Terrors der Mehrheit" (Lachenmann).

Daniel Küblböck will nach seinem Gurkenunfall glücklicher- oder unglücklicherweise nun Sozialpädagoge werden. Da kann er vielleicht nicht viel falsch machen (Glück für uns) oder aus anderen Gründen nicht viel ändern (Pech für uns). Die Karriereleiter ist bedeutsam: Schüler, Superstar, Sozialpädagoge. Wäre es nicht sinnvoller, wenn am Anfang der Karriere ein Psychologe oder ein Sozialpädagoge stünde und am Ende ein Erwachsener, der keine Starallüren mehr braucht?

Liegt folgender Zusammenhang nahe? Je mehr wir vom Star und vom Größten Deutschen reden, umso weniger sind sie da?! Je mehr das so ist, umso mehr werden konkrete Vorbildstrukturen, die jeder Heranwachsende braucht, mit Trash gefüllt, und das heißt: die Jugendlichen werden an der Nase herum geführt, weil sie die wirkliche Aufgabe ihres Lebens nicht mehr erahnen, geschweige denn erkennen können: sich selbst zu finden und selbst zu sein. Das ist meilenweit von dem Egoismus und der Egomanie entfernt, den die Gesellschaft produziert. Selbst zu sein bedeutet, jemand hat sich in seiner Relativität zum Ganzen der Schöpfung erkannt, und er hat erfahren, was es heißt, beim Namen genannt oder erkannt worden zu sein. Jürgen Fliege, der bekannte Moderator, legt in seiner Biografie "Menschenflüsterer" aber auch in seinen Sendungen davon beredt Zeugnis ab. Seinem Credo müsste die Schule folgen: Höchstes Bildungsziel ist die Wachheit des Menschen: Wachheit im Sinne der differenzierten Wahrnehmungsfähigkeit. Das könnte auch Aufklärung heißen, ist aber bei weitem komplexer, vielleicht sogar die natürliche Voraussetzung der Kantschen Aufklärung.

Stehen die Zeichen auf Sturm, was die konkreten Vorbilder der Menschen heute angeht? Müssen wir trotz der Erfahrungen des Dritten Reiches wieder über Vorbilder reden, um loszukommen vom Trauma des Führer, Verführers und des Gurus?

Jeder Mensch braucht konkrete positive Vorbilder, wenn er nicht scheitern und im Sinne des Humanums weiter kommen will. "Eine Gesellschaft ohne Vorbilder wird die Zukunft nicht meistern können" (Vittorio Hösle).

Wir brauchen einen engagierten gesamtgesellschaftlichen Diskurs (Gespräch) zum Thema: Vorbild!

 

Die Podiumsdiskussion

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