Edigheimer Gespräche

im Schuljahr 2008/2009

Wa(h)re Bildung. Zum Verhältnis von Arbeit, Demokratie und Freiheit.
Oder: Der Neue Kapitalismus und seine Folgen

Karl-Ludwig Kemen

Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem auch in der Schule über den neuen Kapitalismus nachgedacht werden muss. Dieser scheint seit einiger Zeit dazu angesetzt zu haben, als totalitäre Weltanschauung weit über die Ökonomie hinaus alle Gebiete des Lebens zu beherrschen und bis ins Innerste hinein zu bestimmen. (Jens Jessen, Die Zeit 30/2005)

Die Frage nach dem Wesen des heutigen Kapitalismus verdankt sich interessanterweise keiner radikalen politischen Position, sondern entspringt einer allgemeinen Not des Denkens. In allen politischen Lagern regt sich das Nachdenken über das neuartige Phänomen und deshalb darf es, ja muss es Gegenstand von Unterricht werden.

 

Lange vor dem Einsetzen des neuen Kapitalismus, den Richard Sennett mit dem Ende des in Bretton Woods geschaffenen Weltwährungssystem Ende der 1970er Jahre beginnen lässt, hat der Philosoph Heinrich Rombach in seiner Strukturontologie, einer „Phänomenologie der Freiheit“ (1971) gezeigt, dass „die "Wohlstandsgesellschaft“, die das beherrschende Kriterium der Gegenwart ist, nichts anderes ist als der Totalitarismus der Ökonomie, die Unterwerfung aller anderen Maßstäbe unter die Denkform des wirtschaftenden Menschen.

Mit dieser Totalisierung eines bestimmten ontologischen Bereiches menschlichen Daseins geht eine ungeheure Zerstörungsmacht einher. Die Ökonomisierung des Denkens verändert in negativster Weise alle Lebensbereiche des Menschen insbesondere Philosophie, Religion, Wissenschaft, Politik, Kunst, Bildung und Erziehung. Die Verabsolutierung des Maßstabes der Ökonomie führt zum Verlust bzw. zur Zerstörung der Maßstäbe aller anderen Lebensbereiche und damit nahezu zur Zerstörung der Wesensstruktur derselben und damit auch der fundamentalen Wesensmöglichkeiten des Menschen. Aus diesem Grunde muss Schule heute die jungen Menschen über diese Vorgänge in Kenntnis setzen und sich im Sinne ihres Bildungsauftrags (Humboldt) und im Sinne der Aufklärung (Kant) kritisch mit diesen bedenklichen Phänomenen auseinandersetzen.

Wie soll man z.B. Phänomene des gegenwärtigen Kunstmarktes und seines Einflusses auf die Kunst als solche erklären, wenn man die Bedeutung der Marktmechanismen und deren Zusammenhänge nicht deutlich machen kann? Man nehme nur z.B. das Bild „Execution“ von Yue Minjun, das am 12. Oktober 2007 bei Sotheby's für 5,9 Millionen Dollar versteigert wurde, oder Damien Hirsts Totenschädel „For the Love of God“ für 100 Millionen Dollar. Wie sollen Phänomene im Sektor der Medien verständlich gemacht werden, wenn man keine Ahnung von den wirtschaftlichen Vorgängen im Bereich der Presse, der Sender oder der Film-, Musik- und Computerspiele-Industrie hat, wenn Rendite-Erwartungen von mehr als 30 Prozent bestehen? Wie soll man verstehen, dass Design heute zu einem Wirtschaftsfaktor höchsten Grades geworden ist, ja Design sich anschickt, eine strategische Schlüsselrolle der Unternehmensplanung zu werden?

Wenn Heiner Geißler in einem Zuender-Interview/Die Zeit (21/2007) davon spricht, dass der gegenwärtig existierende Kapitalismus genauso falsch sei wie der Kommunismus und feststellt, dass der Neoliberalismus überall dazu führe, dass es wenigen besser und vielen schlechter gehe, und wenn Helmut Schmidt, ebenfalls in Die Zeit (50/2003), davon sprach, dass der Raubtierkapitalismus die offene Gesellschaft bedrohe, sind das Alarmzeichen, die man ernst nehmen sollte.

Dass die herrschende Form des neuen Kapitalismus aber kein Zufall ist, sondern die notwendige und logische Endgestalt der systemontologisch verfassten westlichen Welt, hat wiederum Heinrich Rombach einsichtig, nachvollzieh- und denkbar gemacht. Individualismus und Sozialismus bzw. Liberalismus und Laboralismus kennzeichnen nach Rombach die geschichtliche Situation der Welt am Ende des Systemdenkens. So wie der Sozialismus-Kommunismus an seiner Systemverfasstheit gescheitert ist, wird auch der Kapitalismus scheitern, da sie beide der gleichen Wurzel entstammen. Der Zusammenbruch des Kapitalismus wird aber nur schleichend und fast unmerklich geschehen, dabei aber den völligen Zerfall der Moral und Humanität in Kauf nehmen. So Rombach!

Rombach schreibt schon 1994 in "Phänomenologie des sozialen Lebens" bezogen auf den Kapitalismus: "Eine uferlose Kriminalität greift um sich, Auflösung der sozialen Bindungen herrscht, Solidarität geht verloren, Jugendbanden formieren sich, erdrutschartig kommen die Völker in Bewegung, die freie Wirtschaft wirkt sich in vielen Ländern als allgemeine Korruption aus." Und das sei nur der Anfang eines gigantischen Zerfallsprozesses, der weit über die heutigen Vorstellungsdimensionen hinausgehen werde.

1997 äußert George Soros von einem anderen Standpunkt ausgehend und aus einer anderen Perspektive bezüglich dieses Verfallsprozesses: »Die Schuld sehe ich in der herrschenden Ansicht, die ungehinderte Verfolgung der Eigeninteressen werde letzten Endes ein internationales Gleichgewicht zur Folge haben. Diese Zuversicht halte ich für irrig.« (Die Zeit 04/1997)

Angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen scheint es so, dass wir uns diesen Sichtweisen nicht verschließen dürfen. Eine neue Aufklärung muss dem neuen Kapitalismus entgegengestellt werden, nicht eine der auf pure Rationalität verkürzten Vernunft, sondern eine, die den ganzen Menschen angeht und aufschließt, eine poetisch-poietische. Dazu müssen wir uns aber unseres eigenen Rumpelstilzchen-Wesens bewusst werden; denn wie Eugen Drewermann schreibt, lassen sich „alle Gefühle, die wir opfern müssen, um Karriere zu machen, repräsentieren in diesem Zwergenwesen unserer selbst, in dieser Homunkulusgestalt, die immer trickreich ist, immer fleißig, jede Nacht durcharbeitet.“ (www.dradio.de/Interview 08.11.07)

Der neue Kapitalismus als zentrale Bedingungsform menschlicher Lebensbereiche muss aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet und in Augenschein genommen werden, um Hinweise für Lösungswege zu bekommen, die uns helfen der dilemmatischen Lebenslage zu entkommen. Die 2. Edigheimer Gespräche (von Okt. 2008 bis Okt. 2009) werden aus der Sicht der Neurobiologie, der Medienkritik, der Designwissenschaft und der Kunst, der Psychotherapie, der Politik, der Philosophie und Ethik und auch der Ökonomie erste Hilfestellungen geben, Schule und Unterricht im Sinne einer Zweiten Aufklärung zu verändern und zu gestalten.

Literaturempfehlung: Jens Jessen (Hrsg.): Fegefeuer des Marktes, Bonn 2007 (Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe, Bd. 577,Bestellnummer: 1577, Preis: 4,00 Euro)

 

 

Ergänzung
(Textergänzung, Sept. 2008, des im Dezember 2007 verfassten Textes).

Das „Fegefeuer“ des Marktes mit seinem höllenartigen Vorgeschmack zeigt sich in seinen Umrissen immer deutlicher, das belegen die Ereignisse der letzten Monate. Die Problematik des neuen Kapitalismus hat an Schärfe zugenommen und wird auf eine deprimierende Weise prägnant. Genau in dem Moment (15. u. 16. September 2008), als es Damien Hirst gelingt, bei einer Sotheby`s Auktion in London seine im Jahre 2008 mit nahezu 200 Mitarbeitern produzierten Kunstwerke für 140 Mill. Euro zu versteigern und damit zum gegenwärtig bestbezahltesten lebenden Künstlers zu avancieren, erreicht die Krise des Finanzkapitalismus mit dem Bankrott der Investmentbank Lehman ihren vorläufigen Höhepunkt. Mit 613 Milliarden Dollar steht Lehman in der Kreide und ist so verantwortlich für die größte Pleite in der Geschichte der USA, denn wie Die Zeit (Nr. 23/2008) schreibt, hatten die Banker der Wall Street in den letzten Jahrzehnten die Finanzwelt in ein Casino verwandelt, da Renditen unter 30 Prozent die Finanzjongleure nur zum Lachen brachten. Während das letzte der 10 Gebote, in dem es um die menschliche Gier geht, in der Zwischenzeit zum absoluten Markenzeichen der Wall Street geworden ist, wurde Damiean Hirsts "Das goldene Kalb" in Formaldehyd für nur 12,9 Millionen Euro zum absoluten ikonographischen Symbol der Gegenwartskunst. Der vom Altbundeskanzler Helmut Schmitt gemeinte „Raubtier-Kapitalismus“ hat also auf eine neue Weise sein wahres Gesicht gezeigt und sich als die nicht mehr überbietbare zivilisatorische Regression der gesellschaftlichen Verhältnisse erwiesen. Helmut Schmidts neues Buch „Außer Dienst“ kommt angesichts dieser Phänomene fast wie geplant ebenfalls in der Woche des Super-Crashs auf den Markt und sorgt wenigstens für die allernotwendigste Durchleuchtung und Erklärung der undurchsichtigen und bedenklichen Verhältnisse und Geschäfte auf dem Kapitalmarkt. „In ihrer weltweiten Summe machten derartige Geschäfte bereits 2006 pro Tag wahrscheinlich das Fünfzig- bis hundertfache des täglichen Welthandels mit Gütern aus.“ Auch normale Geschäftsbanken nahmen an diesem Spiel teil, obwohl sie deren Risiken gar nicht beurteilen konnten. Wie ist das zu erklären? Norbert Blüms schon 2006 in seinem Buch „Gerechtigkeit. Eine Kritik des Homo oeconomicus“ geäußerte These könnte eine zureichende Erklärung enthalten: „Wir haben es mit einer Wirtschaft zu tun, die sich anschickt totalitär zu werden, weil sie alles unter den Befehl einer ökonomischen Ratio zu zwingen sucht. Das jedoch ist eine verkrüppelte Ratio. Aus Marktwirtschaft soll Marktgesellschaft werden. Das ist der neue Imperialismus. Er erobert nicht mehr Gebiete, sondern macht sich auf, Hirn und Herz der Menschen einzunehmen. Sein Besatzungsregime verzichtet auf körperliche Gewalt und die besetzt die zentralen der Innensteuerung des Menschen.“

Das könnte, wie ich meine, der Nährboden der oben genannten zivilisatorischen Regression sein.

Aber auch der französische Philosoph Bernard Stiegler könnte Recht haben, wenn er, wie im Kappentext seines Buches „Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien“ aus dem Jahre 2008 ausgeführt ist, meint: „Seit der Aufklärung gilt das Idealbild vom mündigen Individuum, das Verantwortung für sein Handeln trägt. Durch die Übermacht der neuen Medien und den globalen Kapitalismus wird jedoch die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, systematisch zerstört. Auch Erwachsene sind tatsächlich keine mündigen Individuen mehr, sondern verharren in einem Zustand der Unreife, der es ihnen unmöglich macht, die jüngere Generation zu Verantwortungsbewusstsein zu erziehen.“ Dies ist vielleicht eine Sichtweise, die den nachdenklich gewordenen Bürger einer Antwort näher bringt. Wiederholend sei deshalb noch einmal festgestellt, dass wir um eine „zweite Aufklärung“ (Sloterdijk) nicht herumkommen werden.

 

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